Schweiz Nord-Süd / Etappe 11 / Erstfeld – Ambri

Etappe 11: Erstfeld – Ambri

Datum: Samstag/Sonntag, 06./07. Juli 2019
Strecke: ca. 54 km
Marschzeit: ca. 13:50h
Teilnehmer: Martin / Urs Bolliger

Vorgeschichte

Die Alpenüberquerung ist natürlich die Königsetappe des Projekts „Schweiz Nord-Süd“. Schon letztes Jahr hatte ich mir intensive Gedanken gemacht, wie ich diese bewerkstelligen sollte. Das einfachste wäre natürlich gewesen, einfach über den Gotthard-Pass zu latschen. Das war mir dann aber doch etwas zu unspektakulär und ich plante eine Variante über den Oberalppass und den Lago Ritom.

Anfangs wollte ich die Etappe als Non-Stop-Ultratrail von Amsteg bis nach Biasca laufen. Aus verschiedenen Gründen (Logistik / viel Zeit in der Dunkelheit /  Erlebniswert / Zeitpunkt), prüfte ich dann immer wieder sinnvollere Varianten. Die Ausführungs-Version sah nun einen 2-Tagesmarsch von Erstfeld nach Faido, mit Übernachtung in der Maighelshütte vor. Distanz ca. 63km, positive Höhenmeter ca. 4’000. Als Begleiter will Urs Bolliger mitkommen, welcher auch mal eine etwas ausgedehntere Wanderung machen will. Ich freue mich auf die Gesellschaft und vor allem die Erfahrung, welche Urs mitbringt.

Wegen der grossen Schneemengen, welche noch im Gebiet liegen, ist Urs skeptisch, ob die Übergänge, welche teilweise auf mehr als 2’500 Meter führen, überhaupt schon passierbar sind. Aus Trailrunning wird jedenfalls nichts. Bergschuhe sind angesagt und ich kaufe mir endlich ein richtiges Paar, welches ich aber nur einmal kurz ein paar Kilometer an den Füssen habe, bevor wir zu dieser Tour starten. Dies sollte sich noch schwer rächen.

Die Hitzewelle ist abgeklungen, als ich am Samstag morgen um 8:30 Uhr Urs abhole und wir mit dem Auto nach Erstfeld fahren. Die Wetteraussichten sind nicht ganz klar, aber grundsätzlich sieht es gut aus und wir sind zuversichtlich. Nach 9:30 parkieren wir das Auto beim Bahnhof und kurz darauf marschieren wir los.

Erstfeld – Gurtnellen

Karte Erstfeld – Gurtnellen

Ursprünglich wollte ich ja in Amsteg starten. Bei der letzten Etappe mit den Jungs hat es aber nur bis Erstfeld gereicht und nun müssen wir halt zuerst mal das Flachstück bis Amsteg marschieren. Es geht entlang der Reuss und entlang der Autobahn. Teilweise sind die Auspuffe der Autos genau auf unserer Nasenhöhe. Wir kommen gut vorwärts und unterhalten uns über Gott und die Welt. Kurzweiliges wandern halt.

Von Erstfeld Richtung Amsteg. In der Bildmitte der Bristen, an dem wir rechts vorbeilaufen werden.

Urs findet das Projekt noch nicht so gelungen. Erstens könnte man hier mit dem Bike fahren und zweitens stellen wir nun selber die nervigen Wanderer dar, welche nicht zur Seite gehen, wenn er jeweils mit dem Bike fährt. Wahrscheinlich hat er auch noch gar nie, eine solch lange flache Strecke am Stück zu Fuss absolviert.

Nach einer Stunde haben wir die 6.5 Kilometer bis Amsteg geschafft und es geht in die erste Steigung, welche uns nach Ried hochführt. Ich bin froh, dass es nicht allzu heiss ist und beginne trotzdem schon ordentlich zu schwitzen. Urs scheint zu faul zu sein, um irgendwelche Schweisstropfen zu bilden.

Was man so alles in ein enges Tal reinpacken kann: Landstrasse, Autobahn, Zugstrecke und Stromleitungen

Obwohl nicht unbedingt schön zum anschauen, finde ich es doch faszinierend, welche Infrastruktur hier über die Jahrzehnte ins Tal gebaut wurde. Wenn man einem Ingenieur vor dem ursprünglich leeren Tal erklärt hätte, was alles reingebaut werden soll, hätte er dies wahrscheinlich als unmöglich abgetan. Aber irgendwie hatte dann trotzdem irgendwie alles Platz.

Urs schwärmt vom Gasthaus Schäfli, drüben in Intschi. Die Sonnenschirme auf der Terrasse können wir erkennen, aber wir sind definitiv auf der falschen Seite der Reuss, um einzukehren. Urs ist sowieso nicht so der Pausentyp und marschiert lieber vorwärts.

Im Fellitobel

Herr Bolliger gibt das Tempo vor und ich schaue einfach, dass ich mitkomme. Bis jetzt funktioniert es gut, allerdings spüre ich bereits jetzt an meinen Fersen, dass sich Blasen entwickeln werden. Für heute kein Problem, aber ich befürchte, morgen richtig leiden zu müssen.

Der Weg führt hinunter an die Reuss, über die Reuss und wieder zurück über die Reuss. Dann endlich nach etwas über 2 Stunden Marschzeit verlassen wir auf der Höhe von Gurtnellen den Talgrund und steigen aus dem Reusstal hoch Richtung Fellital.

Gurtnellen – Treschhütte – Fellilücke

In Gurtnellen starten wir auf einer Höhe von rund 700 Meter. Das Fellital werden wir über die Fellilücke auf rund 2’470 Metern verlassen. Das heisst, ein Aufstieg von fast 1’800 Höhenmetern wartet jetzt auf uns. Mit meiner Trail-Running-Höhenmeter-Faustformel würde das 180 Minuten (also 3 Stunden) Aufstieg bedeuten. – Mir graut etwas davor, denn mit den Bergschuhen, dem „schweren“ Rucksack und allenfalls noch Schnee wird es wohl länger dauern. Zum Glück haben wir Zeit!

Aufstieg von Gurtnellen Richtung Fellital

Die Steigung wird steiler, das Tempo von Urs nimmt aber nicht wirklich ab. Für mich wird die Wanderung langsam zur sportlichen Herausforderung. Ich bleibe tapfer an meiner Lokomotive dran und frage mich, wieso ich dieses Unternehmen eigentlich nicht alleine angegangen bin. – Eine Pause haben wir nach 3 Stunden Marschzeit noch nicht gemacht. Ich trinke regelmässig über den Trinkschlauch. Urs gönnt sich nur einmal kurz ein paar Schlucke Cola. Dann geht er aber gleich wieder ab wie ein Wiesel.

Durchs Fellital Richtung Treschhütte

Meine Lichtblick ist die tiefstgelegene SAC-Hütte, die Treschhütte auf 1’482 Metern. Die Aussicht auf ein kühles Rivella dort, gibt mir mindestens eine halbe Stunde Kraft, um das Tempo von Urs zu halten. – Zu meinem Entsetzen will Urs dann einfach an der Hütte vorbeilaufen. Ich insistiere und lade ihn zu einem Getränk ein. Etwas zusätzlichen Zucker brauche ich auch noch und während ich mit zittrigen Fingern noch versuche das Kägi-fret aus der Alufolie zu fummeln, hat Urs sein Cola schon runtergestürzt und ist bereit zum weiterlaufen.

Durchs Fellital. In der Bildmitte unser Ausgang zum Oberalppass: Die Fellilücke.

Das Fellital ist wunderschön und ich würde diese Umgebung gerne geniessen. Leider hab ich grad ein Déjà-vu und ahne, was mir bald widerfahren wird. – Die Situation ist nämlich sehr vergleichbar mit der ersten Skitour, auf welche Urs mich mitgenommen hat (Obere Bielenlücke). So 800 Höhenmeter kann ich mit dem Tempo von Urs mithalten. Leider ist dieses Tempo für mich nicht nachhaltig und auf den nächsten 1000 Höhenmetern serble ich dann einfach ab! Immerhin habe ich heute nicht auch noch mit meinen technischen Defiziten auf den Skiern zu kämpfen.

It’s a long way!

Auf den flacheren Abschnitten komme ich gut mit und kann die Sache einigermassen geniessen. Auf rund 2’100 Metern beginnt dann aber der Schlussaufstieg und der ist fast komplett mit Schnee bedeckt. Ein Trailrunner kommt uns entgegen und ich beneide ihn um sein leichtes Gepäck und insbesondere die Running-Schuhe. Mit meinen Füssen kommt es heute definitiv nicht gut.

Übers Schneefeld hoch zur Fellilücke

Mein Kampf mit der Fellilücke entbrennt jetzt richtig. Als erstes muss ich mich einfach von Urs lösen und mein ganz eigenes, inzwischen ziemlich schneckenhaftes Tempo gehen. Leichte Krampferscheinungen im Fuss- und Wadenbereich treten auf. Ich suche die Salztabletten aus dem Rucksack und werfe mal zwei ein. Bei meiner Schwitzerei hätte ich das schon viel früher machen müssen.

Es funktioniert gut, auf dem Schnee zu marschieren. Allerdings ist dieser relativ weich und es braucht mehr Kraft als auf einem Wanderweg. Herr Bolliger scheint dies nicht zu stören und er stampft einfach geradewegs hoch. Ich muss immer mal wieder kurz anhalten und die Krampferscheinungen gibt es nun auch schon im linken Oberschenkel. Zweimal sinke ich knietief im Schnee ein, was die Stimmung auch nicht gerade hebt.

Im Kampf mit Körper, Geist und Elementen

Ansporn gibt mir aber die wettertechnische Entwicklung. Es kommt immer mehr Bewölkung auf und es ist zu befürchten, dass bald Regen bzw. ein Gewitter aufziehen wird. Mein Ziel ist, über die Fellilücke zu kommen, bevor es nass wird.

Nach 5:45h reiner Marschzeit bin dann auch ich oben! 23.5 Kilometer und gut 2’000 Höhenmeter haben wir im Sack. Der Rest ist im Prinzip ein Spaziergang.

Fellilücke – Oberalppass – Maighelshütte

Karte Gurtnellen – Maighelshütte

Der Spaziergang fängt dann gleich wieder im Schnee an. Auch auf der Südseite liegt noch ein Schneefeld, welches wir halb rutschend bewältigen. Wie befürchtet setzt bald Regen ein und auch Donnergrollen ist hörbar. Wir sind am südlichen Rand einer massiven Gewitterzelle, welche in der Innerschweiz grosse Schäden anrichtet. Das wissen wir zu diesem Zeitpunkt aber nicht.

Ich würde am liebsten Regen-Vollschutz mit Hosen und Rucksack-Überzug erstellen. Leider bringe ich die Regenhosen nicht über die Bergschuhe und da Urs immer noch in kurzen Hosen, aber immerhin mit Regenjacke schon wieder bereit steht, tue ich es ihm gleich. Dass ich die Regenschutzhülle nicht auf über den Rucksack ziehe, erweist sich später als Fehler.

Blick von der Fellilücke runter zum Oberalppass

Es sind nur rund 400 Höhenmeter runter zum Oberalppass und wir haben das schützende Restaurant dauernd im Blick. Es wird nun aber wirklich etwas garstig. Graupelschauer mit Sturmböen prasseln von hinten auf uns ein. Während bei Urs die Stimmung sinkt, steigt sie bei mir. Der sportliche Charakter des Projekts nimmt ab, dafür steigt der Abenteuer-Faktor! – Mein linker Oberschenkel krampft immer noch, aber bis in die Beiz gibt es jetzt keine Pause mehr!

Mr. Bolliger not amused about the rain! (Zu deutsch: „Nass bis uf d’Underhose“)

Bald glubscht es nur noch in den Schuhen und wieder mal tritt der Effekt auf, dass alle Schmerzen weggehen, wenn die Füsse so richtig nass sind. Allerdings weiss ich auch, dass die Schmerzen wieder zurückkehren, wenn die Füsse wieder trocken sind.

Insgesamt benötigen wir etwa 35 Minuten von der Fellilücke bis ins Oberalppass-Restaurant. Dort zuerst mal die nassen Sachen weg und dann Rivella und Gerstensuppe tanken.

Das Gewitter ist rasch vorbei und wir machen uns wieder auf den Weg. Es regnet noch ganz leicht, aber Besserung ist in Sicht.

„On the road again“ auf dem Oberalppass

Bis zur Maighelshütte, unserem heutigen Etappenziel sind es noch rund 5 Kilometer. Das sollten wir in gut einer Stunde schaffen. Ich habe kurz das Gefühl, wir würden falsch laufen. – Aber Urs kennt das Gebiet von Ski- und Mountainbike-Touren sehr gut und meine navigatorischen Fähigkeiten sind überhaupt nicht gefragt.

Abwärts und flach komme ich immer noch mit. Sobald es etwas steiler wird, lasse ich abreissen. Zum Glück hat es nicht mehr viele Steigungen und ich kann das heutige Restprogramm bis zur Hütte geniessen. Bevor wir die Hütte erreichen kommt dann auch die Sonne schon wieder hervor und auch Urs gefällt das Leben wieder viel besser.

Die Maighelshütte

Nach 7:30 Marschzeit treffen wir vor 18:00 Uhr in der Hütte ein. Wir haben also insgesamt keine 45 Minuten Pause gemacht. Fast 31 Kilometer und über 2’400 positive Höhenmeter liegen hinter uns. Wir nutzen die Sonnenstrahlen, um unsere nassen Sachen gleich noch etwas zu trocknen. Meine Fersen sehen wie erwartet ziemlich scheisse aus und ich bin froh, dass ich die offenen Stellen noch mit einem grossen Compeed abdecken kann.

Ein bisschen müde sieht er immerhin doch auch aus

Vor dem Nachtessen gibt es noch ein grosses Panaché für jeden von uns. Und Urs kann zu den negativen Effekten von Bergtouren mit mir (immer schlechte Schneeverhältnisse, immer wechselhaftes Wetter), endlich einen positiven hinzufügen (keine Leute auf der Hütte). Wir teilen uns einen 18 Personen Schlafraum einzig und alleine mit einem jüngeren Paar.

Maighelshütte. Blick Richtung Passo Bornengo (tiefster Punkt hinten am Horizont)

Das Nachtessen ist tiptop. Nachher hängen wir noch etwas rum, während unsere Zimmergenossen die verschiedensten Varianten für den morgigen Tag durchspielen. Unsere Route ist soweit klar und am Horizont können wir den nächsten Übergang, den Passo Bornengo bereits sehen. Etwa 5 Kilometer Luftlinie sind es bis da und es wird uns wieder einiges an Schnee erwarten.

Abendstimmung auf der Maighelshütte

Bereits vor 22:00 Uhr liegen wir dann in den Federn. Mein mitgebrachter Schlafsack ist so nass, dass ich mir auf der Hütte einen anderen mieten muss. – Wegen der geringen Belegung ist es sehr ruhig im Zimmer und ich habe fast Angst einzuschlafen und im Schlaf Lärm zu machen. Die Lage ist sehr transparent und der Schnarcher wäre in dieser Situation schnell gefunden.

Maighelshütte – Cadlimohütte

Karte Maighelshütte – Ambri

Um 6:30 Uhr gibt es Frühstück. Danach der schlimme Moment, wenn die geschundenen Füsse wieder in die noch nassen Schuhe müssen. Jammern hilft aber nichts, irgendwie muss es gehen. – Um 6:55 Uhr machen wir uns auf den Weg. Das Pärchen ist immer noch am beraten, welcher Berg es denn nun heute sein soll.

Die ersten paar hundert Meter sind mühsam. Jeder Schritt schmerzt und ich habe das Gefühl, ich bekomme oben auf den Zehen bereits neue Reibstellen im nassen Schuh. – Im Süden ist blauer Himmel, im Norden hat es noch ein paar dunkle Wolken. Das ändert sich dann rasch, denn nach 20 Minuten Marsch (keine 2 Kilometer), zieht es von Westen her zu, die ersten Tropfen fallen und kurz darauf blitzt es. – Shit happens.

Rucksack runter, Regenjacke raus, Sonnenbrille in den Rucksack und heute dann doch die Regenhaube über den Rucksack. – Wir stampfen weiter dem Pass entgegen, welcher nun in den Wolken nicht mehr sichtbar ist. – Plötzlich bleibt Urs stehen und meint, so hätte das keinen Sinn mehr. Er will umdrehen und zurück zum Oberalppass marschieren. – Das passt mir nun aber nicht. Wenn ich schon mit Schmerzen laufe, dann wenigstens vorwärts und nicht zurück.

Wir checken das Regenradar und haben einfach Pech gehabt. Eine einzelne Gewitterzelle zieht vom Wallis Richtung Graubünden und wir sind nun genau darunter. Die Sache scheint aber bald vorüber zu sein, und nachher sieht es wieder gut aus.  Ich mache den Vorschlag, wenigstens bis zum Lago Ritom zu latschen und dort die Bahn nach Ambri zu nehmen. Urs findet den Vorschlag okay und wir marschieren weiter.

Es dauert dann nicht lange, bis der Regen abgibt und sich die Wolken wieder verziehen. Hätten wir umgedreht, würden wir das bereuen. Wahrscheinlich wären wir besser eine halbe Stunde länger im Bett geblieben und hätten die ganze Sache verpasst.

Nach 20 Minuten Marsch, bereits im Regen

Landschaftlich finde ich diese Hochtäler immer faszinierend. Du läufst immer tiefer hinein, bis es nicht mehr weitergeht und du über einen Pass aus dem Tal raus und in die nächste Geländekammer kommst. Jedesmal wie eine kleine Wiedergeburt.

Schon bald sind wir wieder auf Schnee unterwegs. Urs sucht mit sicherem Auge eine gute Route. Die Hüttenwartin hat uns gestern erzählt, letzte Woche sei eine Schulklasse diesen Weg gegangen. Teilweise in Turnschuhen. Bis zur Cadlimohütte hätten sie statt 3.5 Stunden, volle 12 Stunden gebraucht.

So lange werden wir nicht benötigen. Allerdings muss ich auf dem ausgedehnten Schneefeld schon wieder abreissen lassen. Urs ist zu stark. Heute lasse ich mich aber nicht stressen und marschiere einfach mein Tempo. – Er sticht dann die links die Flanke hoch, da wir dort rascher vom Schnee wegkommen. Über ein Geröllfeld gehen die letzten Höhenmeter bis zum Passo Bornengo dann einfacher.

Blick vom Passo Bornengo zurück ins Maighelstal

Erster Pass bezwungen. Was mir nicht so gefällt ist unsere Geschwindigkeit. Für knapp 6 Kilometer Strecke haben wir ca. 1:45h gebraucht. Wenn ich das auf die restlichen 26km bis Faido hochrechne und noch die Heimfahrt dazu addiere, dann verpasst Urs das Nachtessen mit seiner holden Gattin. Das wäre nicht gut, da Urs selten in Franken, dafür in der Währung „Nachtessen mit Patricia“ kalkuliert.

Ich hatte gehofft, auf der Südseite des Passes auf einen schneefreien Wanderweg zu treffen. Diese Hoffnung wird enttäuscht und es wartet ein recht steil abfallendes Schneefeld auf uns. Dieses müssen wir traversieren und Urs spricht genau meine Gedanken aus: „Hier hätte ich nicht mit einer Schulklasse durchgewollt!“.

Eine grössere Gruppe kommt uns entgegen, welche wohl auf der Cadlimohütte übernachtet hat. Sonst ist treffen wir heute früh hier oben keine Leute. – Wir steigen rund 300 Meter ab, um nachher wieder über 200 Meter bis zur Cadlimohütte aufzusteigen.

Vom Passo Bornengo Richtung Cadlimohütte

Meine Gedanken drehen sich nun vor allem um die Routenplanung. Wir haben nun 2.5 Stunden für 7.5 Kilometer benötigt, gibt einen Schnitt von 3 km/h. Das wären dann mehr als 10 Stunden für die ganze Strecke bis Faido. Auch wenn wir noch etwas an Geschwindigkeit zulegen können, wird der Tag aus meiner Sicht zu lange, wenn wir bis Faido gehen wollen. Ich verabschiede mich vom Ziel Faido und überlege mir schon mal einen tollen Traillauf vom Lago Ritom nach Biasca als nächste Etappe des Projekts.

Nach 2:45h sind wir bei der Cadlimohütte. Obwohl ich gefühlsmässig nicht grad von Energie strotze und in den Aufstiegen am kämpfen bin, sind wir den Umständen entsprechend zügig unterwegs. Ein paar Schlucke Cola, dann geht es über das nächste Schneefeld weiter Richtung Lago Ritom.

Sichtbare Begeisterung bei der Cadlimohütte

Cadlimohütte – Lago Ritom – Ambri

Ich freue mich und bin gespannt auf den Lago Ritom. Ich war noch nie dort, habe innerlich aber ein sehr positives Bild dieser Gegend. Beeindruckend ist dann der Abstieg aus dem Hochgebirge mit Schnee- und Eis, in die tieferen Lagen, wo alle Leute in kurzen Hosen rumlaufen. Die Schnee- und Eislandschaft weicht grünen Alpen und sogar Blumenwiesen.

Lago Scuro mit Eis (2’450 Meter)

Nach der Cadlimohütte ist für mich die Spannung aus dem Unternehmen etwas draussen und ich will die Sache einfach möglichst rasch und bequem zu Ende bringen. Ich habe keine Lust mehr auf weitere Höhenmeter und noch Stunden mit schmerzenden Füssen. – Meine Idee ist, runter zum Lago Ritom und dann mit der Bahn ins Tal.

Die Landschaft kann ich aber geniessen und die Gegend hat zu Recht einen guten Ruf.

Lago di Tom und Lago Ritom

Urs sieht die Sache ähnlich und so biegen wir bei der Alpe Tom nach rechts Richtung Piora ab, anstatt nach links Richtung Cadagno-Hütte zu gehen. Hier hat es nun viele Sonntags-Wanderer und Familien unterwegs, welche sich einen schönen Tag am Ritomsee machen wollen.

Im Abstieg zum Lago Ritom. Langsam lässt auch Urs den Kopf hängen.

Es ziehen schon wieder Wolken auf und das bestärkt uns, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Bis zum Lago Ritom haben wir 14 km zurückgelegt und sind bereits wieder fast 4.5 Stunden (Bolliger-Style ohne richtige Pause) unterwegs.

Ich fühle mich in einer „Eile mit Weile“-Situation: Du willst so schnell wie möglich nach Hause, die Energie ist draussen, es braucht aber einfach noch Geduld um das Ding fertig zu machen.

Lago Ritom

Zu meiner Enttäuschung fährt die Bahn dann nicht direkt bei der Staumauer, sondern erst einen Kilometer weiter unten. Also weiter „Eile mit Weile“!

Bei der Station angekommen stellen wir fest, dass die Bahn erst in 40 Minuten fährt. Urs, eh ÖV-Skeptiker, will nicht so lange warten und lieber noch runterlaufen. – So 1000 Höhenmeter Downhill müssten wir doch in 40 Minuten fast schaffen! Und ein bisschen Oberschenkel-Training kann eh nichts schaden.

Was machen, wenn die Bahn erst in 40 Minuten runterfährt? – Runterlaufen!

Wir haben noch eine hochstehende Diskussion über Gott und die Welt im Abstieg. Es geht ziemlich steil zur Sache und die Höhenmeter laufen auch abwärts nicht so einfach von der Uhr, wie es ohne Rucksack und mit Trailschuhen möglich wäre. Aber immerhin kann ich an Urs dranbleiben.

Wanderweg-Suche

Halb unten sehe ich, wie beim Bahnhof Ambri-Piotta der Zug wegfährt. In einer Stunde müssen wir da im nächsten drin sitzen. Das sollte komfortabel reichen. – Urs reicht es dann langsam auch und auf der Teerstrasse wechselt er auf einmal in den Laufschritt. Ich hänge ihm an, bis wir nochmals auf einen Trail-Abschnitt kommen und es mir zu bunt wird. Wir haben genügend Zeit und ich will mir nicht noch die Haxen brechen.

Im Laufschritt dem Tal entgegen

Unten im Tal schaltet sich dann meine Uhr infolge leerem Akku aus. Die letzten beiden Kilometer auf der flachen Teerstrasse werden nicht mehr aufgezeichnet. An den Bushaltestellen marschieren wir stolz vorbei. Bis zum Bahnhof schaffen wir es jetzt auch noch zu Fuss!

Nach rund 6:20h Marschzeit und 23 Kilometern gibt es endlich eine richtige Pause mit Glace und Cola. 15 Minuten später sitzen wir im klimatisierten Zug zurück nach Erstfeld. Als wir dort nach 45 Minuten Fahrt aussteigen, stelle ich mit Genugtuung fest, dass auch Urs ein wenig Mühe hat wieder anzulaufen. Er spürt seine Muskeln also doch auch ein wenig!

Fazit

Es war ein super Wochenende, von dem wir noch in Jahren erzählen werden. Sport, Natur, Spass, Kameradschaft und hundert kleine Erlebnisse! Einfach alles was dazugehört!

Die ursprüngliche Route nach Faido wäre sicher machbar gewesen. In Anbetracht der Schnee- und Wetterverhältnisse und dem Zustand meiner Füsse hat es aber Sinn gemacht, abzukürzen und nur bis Ambri zu gehen.

Herzlichen Dank an Urs für die Begleitung und das Guiding!

Streckenprofil

Ausblick

Als nächstes geht es die Leventina runter Richtung Biasca. Mein Plan ist es, der Nationalen Route 2 „Trans Swiss Trail“ bis Chiasso zu folgen. Wenn möglich möchte ich mein „Schweiz Nord-Süd“-Projekt noch dieses Jahr abschliessen.

Ich freue mich auf die Tessiner Abschnitte, da ich das Tessin noch nicht gut kenne und viel Neuland entdecken werde.

Kommentare sind geschlossen.