X-Alpine 111 2018 / DNF beim Monsterding

Facts X-Alpine 111

Strecke: 110.6km
Höhenmeter: +8’375m / – 8’375m
Zeit: DNF (did not finish) nach 48km und rund 12 Stunden

Vorgeschichte

Den Trail Verbier-St. Bernard oder X-Alpine 111, hatte ich schon lange auf dem Radar. Von Berichten wusste ich allerdings, dass dieses Ding ein echt hartes Stück Arbeit ist. Die letzten Jahre standen im Zeichen des UTMB und deshalb suchte ich zuerst „einfache“ UTMB-Quali-Punkte und nachher zweimal die grosse Herausforderung am UTMB selber. Nach dem erfolgreichen UTMB-Finish 2017 war diese Geschichte dann erledigt und neue Herausforderungen mussten her. Anstatt mich im November wie gewohnt reflexartig für den Eiger Ultra anzumelden, buchte ich dieses Mal den X-Alpine 111, welcher (eine Woche früher als der Eiger Ultra) vom 7. bis 8. Juli in Verbier stattfindet. Erfreulicherweise meldeten sich auch noch meine Laufkollegen Matthias Bachmann, Benjamin Schmid und Marco Leuenberger an. So würde ich zumindest vor dem Start nicht so einsam sein.

Als ich mich im Frühling dann intensiver mit dem X-Alpine beschäftige, stelle ich fest, was für ein hartnäckiges Ding ich da vor habe. Pro Kilometer sind 76 Höhenmeter auf- und wieder abwärts zu bewältigen. Das ist massiv viel und wird ordentlich in die Beine gehen. Noch selten habe ich wohl einen solch technischen und steilen Lauf absolviert. Andererseits müsste mir ein solcher Trail im Prinzip liegen, da ich eher der starke „Wanderer“, als der super Läufer bin.

Vergleich meiner absolvierten Läufe

Bei meinem Vorbereitungslauf dem Swiss Canyon Trail 45K, einen Monat vor dem X-Alpine, habe ich leicht muskuläre Probleme. Ich merke, dass ich unbedingt noch Muskeln aufbauen muss, um im Wallis bestehen zu können. Mein Fokus für die letzten Wochen liegt dann auch auf 1000er-Stägeli-Training, um noch möglichst viele Höhenmeter zu sammeln.

Meine Kollegen entscheiden, den 1:00 Uhr Start zu nutzen. Ich komme etwas unter Druck, entscheide aber beim 4:00 Uhr Start zu bleiben. Ich rechne mir eine Endzeit von idealerweise 24 bis 26 Stunden aus. Maximal hätte ich 33 Stunden Zeit. Das müsste komfortabel reichen, sofern es einigermassen rund läuft.

Vor dem X-Alpine

Am Montag vor dem X-Alpine kommt bei mir auf einmal Hektik auf. Nach einem Wochenende mit vielen Terminen, funktionieren am Montag im Geschäft ein paar Sachen nicht und auf einmal bin ich beruflich, familiär und sportlich unter Druck. Ich werde nervös und böse Erinnerungen an die Situation vor meinem DNF am UTMB 2016 kommen auf. Ich bin mir bewusst, dass ich am Freitag mit freiem Kopf nach Verbier fahren muss, wenn ich dort eine Chance haben will. – Schlussendlich verschiebe ich schweren Herzens das Feierabendbier mit Bikepacking-Crack Mark am Dienstag Abend und packe stattdessen meine Ausrüstung zusammen. Nachher fühle ich mich entspannter und zuversichtlicher.

Freitag Morgen verabschiede ich mich nach 9:00 Uhr im Geschäft und packe zu Hause noch die letzten Sachen. Dann um 10:30 Uhr auf den Bus nach Zofingen. Ab dort gemeinsam mit Matthias im Zug bis nach Le Châble. Die Fahrt ist kurzweilig und nach 14:00 Uhr kommen wir an und holen gleich unsere Startnummern. Nachher mit der Gondel hoch nach Verbier. Matthias möchte möglichst rasch etwas essen, damit er bis zu seinem Start um 01:00 Uhr bereit ist. Leider ist in Verbier mitten im Nachmittag keine Küche offen. Wir behelfen uns mit einem Bierchen. Um 17:00 Uhr können wir unser Vierer-Zimmer beziehen und machen gleich unsere Ausrüstungen für den Start bereit. Um 18:00 Uhr gehen wir dann zum Italiener zum Nachtessen. Benj und Xiabingqing stossen dann auch zu uns und vor allem Benj sorgt für Stimmung. Die drei sind im Mai am Transylvania 100km gemeinsam gelaufen und haben viele Geschichten auf Lager.

Vor 20:00 Uhr dann zurück in die Unterkunft. Ich schlage mich rasch ins Bett und versuche etwas Schlaf zu finden. Nach Mitternacht machen sich die drei bereit für den 01:00 Uhr-Start. Ich döse durch und habe eine gute Nacht bis um 3:00 Uhr auch mein Wecker geht. Das aufstehen fällt mir recht leicht und nach Sonnencrème, Füsse crèmen, Brustwarzen tapen, anziehen, Wasser auffüllen, … bin ich bereit. Um 3:45 Uhr gebe ich meinen Dropbag und den Rucksack mit dem Duschzeug ab und stelle mich in die Startbox. Das Abenteuer kann beginnen.

Höhenprofil

Verbier – Sembrancher

12km / +320m / -1’096m

Die Sekunden vor dem Start sind sehr emotional für mich. Dann geht es los und die Emotionen legen sich. Durchs Dorf fällt die Strecke leicht ab und das joggen geht leicht. Dann die erste kleine Steigung. Alle laufen weiter, nur ich beginne zu marschieren. Ich bin praktisch am Schluss des Feldes, als wir die Häuser verlassen und es hoch Richtung „Le Château“ geht. Mein Plan ist, die Stöcke erst im grossen Aufstieg zum „Le Catogne“ zu verwenden. Dieser kurze Anstieg und den anschliessenden Downhill mache ich ohne Hilfsmittel. Das Tempo ist recht flott und ich hätte es lieber etwas gemütlicher. Nach gut einer halben Stunde ist diese kurze Steigung dann geschafft und es geht in den gut 1000 Höhenmeter-Downhill nach Sembracher.

Die ersten paar hundert Meter sind eine der schönsten Strecken, welche ich je gelaufen bin. Flowiger Trail leicht bergab. So macht das Spass. Leider ist dieser bald vorbei und es wird technisch. Ich versuche das Tempo der anderen Läufer zu halten, obwohl ich es immer noch lieber etwas gemütlicher hätte.

Dann macht sich auf einmal mein Darm bemerkbar. Ich schalte die Stirnlampe aus und schlage mich in die Büsche. Als ich wieder rauskomme, sehe ich nur noch eine einzelne Stirnlampe vor mir. Hinter mir kommt niemand mehr. Ich bin der letzte im ganzen Feld. Eine neue Situation für mich. – Entgegen meines Plans nehme ich die Stöcke doch schon hier zu Hilfe, um etwas sicherer unterwegs zu sein. Als ich auf die Uhr schaue, wird mir bewusst, dass es noch mindestens 30 Minuten bergab geht, bevor ich im Tal bin. Heute ist Geduld gefragt!

Als Letzter Richtung Sembrancher

Ich laufe dann auf den zweithintersten Läufer auf und folge ihm mit einigem Abstand. Erste Zweifel kommen auf, ob die Entscheidung mit der 4:00 Uhr Startgruppe wirklich richtig war. Das Rennen ist aber noch lang und es wird noch vieles passieren. Kein Grund schon die Nerven zu verlieren!

Nach 1:41h laufe ich am ersten Verpflegungsposten in Sembrancher ein. Gut 10 Minuten hinter meinem 24h-Zeitplan. Ich fülle nur kurz meine Wasserflasche und kann so eine handvoll Läufer überholen. Immerhin nicht mehr Letzter!

Sembrancher – Champex

14km / +2’034m / -1’278m

Nach ein paar flachen Metern beginnt die Steigung zum „Le Catogne“. Insgesamt sind rund 1’900 Höhenmeter bis zum Gipfel zu überwinden. So etwas bin ich noch gar nie gelaufen. Das ist mehr als die Höhendifferenz bei Jungfrau-Marathon. Gemäss meiner Faustformel 100 Höhenmeter/10 Minuten würde ich 3:10 Minuten benötigen. Ich bin aber nicht sicher, ob ich mein Aufstiegstempo so lange halten kann.

Der Gipfel des Catogne ist bereits in der Sonne

Ich versuche einen Rhythmus zu finden und anderen Läufern anzuhängen. Das funktioniert dann auch einigermassen. Das Ding ist einfach nur steil und es gibt fast keine flachen Stücke zum regenerieren. Perfekt ist das Wetter. Es soll zwar ein heisser Tag werden, aber momentan ziehen immer wieder Nebelschwaden hoch und es ist noch angenehm kühl.

Ich versuche möglichst regelmässig und viel zu trinken. Die Flaschen sollen möglichst immer leer sein, wenn ich an den Verpflegungsposten komme. Trinken geht dann auch einigermassen, zum essen habe ich aber keine Lust, da die Anstrengung einfach dauernd zu hoch ist. Das Läuferfeld ist sehr international. Sehr viele Franzosen, dann Italiener, Deutsche, Asiaten und andere. Schweizer sehe ich nur wenige.

Meinen Marschplan habe ich vergessen. Ich weiss nur, dass ich bis hoch auf 2’598 Meter muss. Und dass unterwegs noch eine Verpflegung bei der Alp Catogne kommt. Einige Minuten nach 7:00 Uhr komme ich dort an. Wasser auffüllen und weiter. Bei der Alp lassen wir auch den Wald hinter uns und je höher wir kommen, desto kahler und steiniger wird es.

Alp Catogne

Die Aussicht runter ins Wallis und auf die umliegenden Berge ist sensationell. Allerdings nehme ich mir keine Zeit, diese zu geniessen. Zu stark bin ich mit mir und der Anstrengung beschäftigt. Ich hadere bereits etwas mit der Entscheidung, nicht um 01:00 Uhr gestartet zu sein. Das hätte mir mehr Zeit gegeben.

Zwischendurch spüre ich leichte Anzeichen von Krämpfen in den Beinen. Ich bin schon vier Stunden unterwegs und habe noch keine Bouillon getrunken, aber stark geschwitzt. Erst in Champex wird es Bouillon geben.

Blick Richtung Martigny. Ein wunderschöner Tag bricht an.

Obwohl ich nicht viele Reserven haben, kann ich mein Tempo einigermassen halten und muss keine Pausen einlegen. Der Gipfel des Catogne ist sehr steinig und es braucht etwas Balance um sich erfolgreich vorwärts zu bewegen. Es weht ein leichter Wind und Nebelschwaden ziehen durch, so dass die tolle Aussicht verdeckt bleibt. – Ich bin froh, diesen ersten Aufstieg geschafft zu haben und mache mich ohne Pause an den Abstieg.

„Le Catogne“ ist bezwungen

Das Gelände bleibt sehr technisch und teilweise hat es Fixseile oder Ketten, an denen man sich zur Sicherheit festhalten kann. Flowiger Downhill ist anders! Hier muss auch bergab jeder Meter erkämpft werden. Jeder Schritt muss sorgfältig gesetzt, die Konzentration jederzeit aufrecht erhalten werden.

Unten im Tal ist der Champex-Lac zu sehen. Es sind aber noch viele hundert Höhenmeter, bis wir dort unten sein werden. Zu allem Überfluss geht es dann auch noch in einen Gegenanstieg. Ich erschrecke, als ich nach oben schaue und hoch über mir Läufer sehe. Für meine Beinmuskulatur ist es jetzt zu viel und die Oberschenkel beginnen sich zu verkrampfen. – Zeit für eine Pause! Ich setze mich auf einen Stein und trinke erst mal ausgiebig. Dann ein Hanuta runter und zwei Magnesium-Pülverchen spühle ich auch noch runter.

Blick Richtung Champex

Nach wenigen Minuten geht es dann weiter. Die Muskeln machen wieder mit und ich kämpfe mich weiter abwärts. Für die 1’250 Höhenmeter Downhill benötige ich schlussendlich über 1:20h. Eigentlich wollte ich um 9:00 Uhr in Champex sein. Nun ist es schon fast 10:00 Uhr. Kein Grund zur Panik, aber es zeigt sich, dass es ein langer Kampf werden wird.

Ich fülle die Wasserflaschen und mache dann den Fehler, statt zuerst Cola in meinen Becher zu füllen, direkt Nudelsuppe zu nehmen. Diese ist aber zu heiss um schnell zu trinken und deshalb nehme ich den vollen Becher mit auf den Weg und muss die Cola-Flasche unberührt stehen lassen.

Champex – La Fouly

21km / +1’836m / -1’706m

Bouillon schlürfend marschiere ich los. Die nächsten beiden Kilometer sind genau nach meinem Geschmack. Der Weg folgt einem lauschigen Bach und steigt stetig leicht an. So gehen die Kilometer rasch vorbei. Rasch vorbei ist dann aber auch diese Strecke und es folgt ein wieder langer und steiler Aufstieg zur Cabane d’Orny. Diesmal sind etwas über 1’400 Höhenmeter zu überwinden, um den höchsten Punkt der Strecke auf 2’826 m ü.M zu erreichen.

Idyllische Orte

Bis auf fast 2’200 Meter geht es durch den Wald hoch. Jetzt schon fast gegen Mittag wird es wärmer. Zum Glück hat es immer wieder Wolken, so dass es nicht brennend heiss wird. Der Trail ist aber anspruchsvoll, steil und technisch. Immer intensiv, kein Stellen zum regenerieren. Es hat hier auch einige Wanderer, Kletterer und Bergsteiger unterwegs. Einzelne Läufer, welche im Aufstieg aufgegeben haben, sind mir schon entgegen gekommen. Das Rennen fordert seinen Opfer. Ich freue mich auf die Hütte, da ich aus den youtube-Videos weiss, dass sie toll gelegen ist. Ich weiss aber auch, dass es oben raus wieder sehr steinig wird.

Ein Meer von Alpenrosen wird bald von einem Steinmeer abgelöst. Meine Energien schwinden und ich mache mal wieder eine kurze Pause und esse ein weiteres Hanuta. Während dem marschieren ist mir das nicht möglich, da die Anstrengung zu intensiv ist. Das einzige was ich in Bewegung runter bringe, sind die Powergel-Shots von Powerbar.

Hoch durchs Steinmeer

Es hat hier auch einige Wanderer, Kletterer und Bergsteiger unterwegs. Auf einem Plateau findet anscheinend auch ein Kletterkurs oder ähnliches statt. Leute stehen in Gruppen zusammen und hören den Instruktionen von Bergführern. – Ich getraue mich meistens nicht, den Blick nach oben zu richten. Ich will gar nicht wissen, wo der Weg hinführt. Ich versuche auch nicht zu oft auf die Uhr bzw. den Höhenmesser zu schauen. Es braucht einfach Geduld und irgendwann werde ich oben sein.

Dafür rechne ich dauernd meine mögliche Ankunftszeit in Verbier aus. Mit 24h wäre es 4:00 Uhr. Das wäre super. Mit 30h wäre es morgens um 10:00 Uhr. Das wäre deutlich weniger toll, da dann sehr wenig Zeit für Schlaf, Heimreise und Regeneration bis am Montag Morgen bliebe. Ich frage mich auch, wie es meinen Kollegen geht. – Werde ich sie einholen können. Machen sie das Rennen fertig? – Ich hoffe es sehr, denn vor allem Matthias will die UTMB-Punkte.

Aussicht von meinem Rastplatz

Bald kommt ein erstes Schneefeld. Kein grosses Problem, obwohl ich mit der Sohle des Speedgoat nicht ganz so zufrieden war, wie letztes Jahr derjenigen des Rapa Nui. Einmal rutsche ich aus und zerbreche fast einen meiner Stöcke,  welcher beim Sturz im Schnee einsinkt. Das wäre dann eine ziemlich mühsame Situation.

Ich bin schon über 8 Stunden unterwegs und die Uhr zeigt eine Strecke von 25 Kilometern. Ich weiss zu diesem Zeitpunkt nicht, dass die Anzeige falsch ist und bin ziemlich frustriert. Einen so fordernden Lauf habe ich noch nie absolviert. Praktisch keine „einfachen“ Kilometer, riesige Aufstiege und Downhills, sehr technische Trails. Da ist Power, Konzentration und sehr viel Geduld und Wille gefragt.

Kurze Schneefelder

Endlich kommt dann die Gabelung, von wo die Strecke im „Gegenverkehr“ zur Hütte geführt ist. Es sind noch etwas über 100 Höhenmeter. Wieder eine mentale Prüfung, wenn man die Läufer kreuzt, welche schon von der Hütte zurück kommen. Mittlerweile haben wir die letzten Läufer der 01:00-Startgruppe eingeholt. Die sehen teilweise recht mitgenommen aus und ich bin mit meinem Zustand zufrieden.

Dann stehe ich endlich vor der Cabane d’Orny. Kurzer Check des Zeitplans. Ich habe nochmals fast eine halbe Stunde auf meine Marschtabelle verloren. Meine hochgerechnete Ankunftszeit verlegt sich in den Morgen. Keine schöne Vorstellung.

Diesmal mache ich es schlauer und trinke zuerst Cola. Dazu schwarze, weisse und Nuss-Schokolade. Dann zwei Becher Bouillon. Diesmal bin ich sicher nicht der schnellste in der Verpflegung. Ein Läufer sucht das WC, der andere einen Arzt. Es ist relativ frisch, da wieder die Luft rundherum am kondensieren ist und sich hier oben Wolken bilden. – Schlussendlich rapple ich mich auf und mache mich an den Abstieg.

Cabane d’Orny. Aussicht leider mässig.

Den längsten Aufstieg habe ich schon hinter mir, den höchsten Punkt erreicht, jetzt folgt der mit 1’600 Höhenmeter längste Downhill. – Was für Mountainbiker toll tönt, ist für Trailläufer nicht immer so toll. Am Anfang nochmals durch zwei Schneefelder. Ich schlage mich besser als ein paar Asiaten, breche aber nochmals fast einen Stock. Während mir vorher joggende Läufer entgegenkamen, ist der Trail für mich nicht laufbar. Zu viel Respekt vor einem Umknicken oder der Überforderung der Muskulatur habe ich. Ich hoffe, weiter unten wird es einfacher.

Es wird dann besser, aber entweder hat es doch zu viele Steine oder es ist zu steil. Wirklich laufbar für mich ist es nirgends. Während ich auf dem 1000er-Stägeli hochgerechnet bis 2’400 Höhenmeter/Stunde vernichten kann, sind es hier noch irgendwelche 900. Eile mit Weile und dies stets hochkonzentriert.

Durchs Tal runter nach Saleinaz

Die Aussicht wäre toll, allerdings bekommt man nichts mit, da der Blick stets auf die nächsten paar Meter gerichtet ist. Die Höhenmeter verschwinden langsam und die Kilometer wachsen praktisch gar nicht an. Es ist frustrierend und nagt an der Psyche. Die Gedanken ans Aufgeben kommen auf und werden dann immer stärker. Keine neue Situation für mich und ich gehe meine Optionen durch.

Die nächste Möglichkeit zum aufgeben wäre La Fouly. Das ist mir aber zu früh, den nächsten Berg bis nach Bourg St. Pierre kann ich noch machen. Aber dann könnte ich es doch auch gleich durchziehen.

Was bringt mir der Finish? – Vielleicht noch ein Finisher-Shirt plus den schönen Eintrag in meinem Ultra-Trail-Porfolio.

Was kostet mich der Finish? – Der Körper wird ausgelaugt, grosse Regenerationszeit, Schlafmanko welches in die nächste Woche wirkt, ich komme erst am Sonntag Abend nach Hause, einen mühsamen Start in die absehbar intensive Arbeitswoche.

Kurz: Mein Ego würde vom Finish profitieren. Meine Familie, Mitarbeiter und Kunden würden leiden.

Also Abbruch in Bourg St. Pierre. Dort komme ich aber erst 22:00 Uhr oder später an. Dann komme ich auch nicht mehr schlau zu meinem Bett zurück. – Also doch in La Fouly die Startnummer abgeben? Und was ist mit meinen Kollegen im Rennen? Wo sind sie und wie geht es ihnen?

Ich treffe den Entscheid, in La Fouly die Situation nochmals zu beurteilen. Sollte ich nur noch eine Stunde oder weniger hinter Matthias und Benj sein, dann werde ich versuchen sie einzuholen und mit ihnen zu finishen. – Sollte ich weiter zurückliegen, gebe ich auf, gehe Pizza essen, schlafe aus und empfange die Kollegen morgen im Ziel. – Meine Entschluss ist gefasst und bis La Fouly suche ich nun Gründe, wieso dieser richtig und logisch ist.

Ich schone damit meinen Körper. Ich habe für dieses Wochenende auch so genug geleistet. Ich werde nächste Woche im Geschäft fitter sein. Ich bin wahrscheinlich früher zurück bei meiner Familie. Ich hatte ja schon vor zwei Jahren gesagt, die Ultras über 100km sind nichts mehr für mich, da „Kosten/Nutzen“ in einem schlechten Verhältnis stehen.

Kurze Kletterpassage

Die Situation ist für mich nun klar, der Downhill aber noch lange nicht zu Ende. So bleibt viel Zeit für Endlos-Gedankenschleifen. Neue Erkenntnisse gibt es nicht mehr. Dafür wächst meine Ehrfurcht vor dem X-Alpine mit jedem Meter. Das Ding ist wirklich knüppelhart und es braucht eine geduldige Vorgehensweise und grosse Entschlossenheit für den Erfolg hier.

Anderen Läufern geht es wohl ähnlich wie mir und einer erklärt, dass er ebenfalls aufgeben will. Der Downhill bleibt bis praktisch zu unterst technisch und ich glaube es fast nicht, als ich am Schluss noch 300 Meter auf einer Strasse abwärts joggen kann. Anschliessend beginnt gleich wieder die leichte Steigung nach La Fouly.

Mein Gelände

Diese Strecke gefällt mir wieder und ich geniesse den letzten Teil meines Laufs. Ich bin bereits über 11 Stunden unterwegs, habe über 4’000 Höhenmeter absolviert und kann mit meinem Tag zufrieden sein. Ich hoffe, dass meine Kollegen weit voraus sind und ich den Lauf mit „gutem Gewissen“ abbrechen kann. Ich gönne mir noch ein Cola-Powergel und versuche weiterhin genügend zu trinken, um nicht noch kurz vor dem Ende Krämpfe zu bekommen.

Richtung La FoulyUm 15:53 Uhr treffe ich in La Fouly ein. Kurz einen Becher Cola und etwas Schokolade, dann hole ich das Handy aus dem Rucksack und checke das Live-Tracking. Matthias und Benj waren vor 1:40 Minuten hier. Ich habe erst 1:20h auf sie aufgeholt. Glück gehabt, ich „darf“ aufgeben. – Ich melde mich beim Postenchef und teile ihm meinen Abbruch mit. Er nimmt es gelassen zur Kenntnis und schneidet mir den Zeitmess-Tag vom Rucksack. Mein Rennen ist vorbei.

Nach dem Rennen

Nach meiner Aufgabe lege ich mich zuerst ein wenig in die Sonne und geniesse den tollen Tag. Bevor der Bus kommt, trinke ich noch einen Cappuccino im Restaurant neben dem Verpflegungsposten. Um 17:40 Uhr fährt dann der Bus mit ungefähr 20 Läufern, welche in La Fouly aufgegeben haben, zurück nach Verbier.

Ich gehe in die Unterkunft und dusche, anschliessend Nachtssen im Dorf. Während ich meine Pizza verschlinge, läuft Philippe Tschumi, der Sieger des X-Alpine im Ziel mit neuer Rekordzeit von 15:57h ein. Ich kontrolliere immer wieder das Livetracking und verfolge die Fortschritte meiner Kollegen. Nach 21:00 Uhr gehe ich zufrieden, glücklich und dankbar ins Bett.

Am Sonntag früh checke ich wieder das Livetracking. Matthias, Benj und Xiabingqing sind immer noch gemeinsam unterwegs, der Finish ist aber noch einige Stunden entfernt. So entscheide ich mich etwas schweren Herzens, nicht auf die drei zu warten und alleine mit dem Zug nach Hause zu fahren. So bin ich schon wieder in der Deutschschweiz, als die drei um 11:00 Uhr nach rund 34 Stunden Laufzeit im Ziel eintreffen. Ich freue mich, dass sie es geschafft haben.

Ich hadere diesmal mehr mit dem DNF, als 2016 beim UTMB. Hätte ich es nicht doch durchziehen sollen? – Ich spüre auch Wehmut, dass ich jetzt nicht mit den anderen feiern kann. Zudem bin ich traurig, da mir das Rennen trotz Kampf und Frust doch auch viel Spass gemacht hat und ich einen glücklichen Samstag erlebt habe.

Um 14:00 Uhr bin ich in Olten und werde von Silvia und den Jungs abgeholt. Wir fahren nach Rothrist an die Aare und haben einen schönen Nachmittag. Am Abend hole ich Matthias in Egerkingen ab und fahre ihn nach Hause. So können wir das Erlebnis nochmals Revue passieren lassen und unsere Lehren daraus ziehen. So finde ich auch meinen Frieden mit dem X-Alpine.

Am Montag bin ich um 6:30 Uhr im Büro. Eine intensive Woche startet mit Personalausfällen, Reklamationen, Auftragseingängen und allem was sonst dazugehört. Ich bin froh, dass ich abgebrochen habe und voller Kraft an die Arbeit kann. Die Entscheidung war definitiv richtig!

Fazit und Ausblick

Im Nachhinein betrachtet hatte ich den X-Alpine ganz klar unterschätzt. Mir war zwar bewusst, dass es ein dickes Brett ist, ich habe aber trotzdem nicht die „sichere“ Variante 01:00 Uhr-Start gewählt. Der Lauf ist absolut sensationell und die Bedingungen wären ideal gewesen. Das Rennen zu finishen schien mir aber zu riskant, da es zu viele negative Auswirkungen auf die Folgewoche gehabt hätte. Aus dieser Sicht hätte ich mich gar nicht erst anmelden dürfen. Nächste Jahr werde ich diesbezüglich zurückhaltender sein.

Ich brauche Herausforderungen und sportliche Aktivitäten in der Natur, damit ich zufrieden, glücklich und ausgeglichen bin. Ich werde auch in Zukunft Ultratrails laufen, allerdings momentan mal nicht mehr die ganz langen und ganz harten. Für nächstes Jahr könnte die X-Traversée, die kleine Schwester des X-Alpine ein spannendes Projekt sein. Dann würde ich mehr oder weniger die restliche Strecke ab La Fouly kennen lernen.

Grundsätzlich möchte ich in den nächsten Jahren meine Familie stärker in die Outdoor-Aktivitäten einbeziehen. Weniger Leistung, Herausforderung und Kampf, dafür mehr gemeinsame Erlebnisse. Die Jungs werden immer leistungsfähiger und die Möglichkeiten deshalb vielfältiger.

Sportlich stehen noch zwei Fixpunkte in diesem Jahr auf dem Programm. Ende Juli Swissalpine/Irontrail in Davos. Ich werde kurzfristig entscheiden, ob ich beim K43 oder T88 starte. Wenn das Wetter passt, favorisiere ich den T88. – Vom 7. bis 9. September will ich dann Brigitte Daxelhoffer bei ihrem Via Alpina-Projekt begleiten und unterstützen. Da kann ich noch nicht richtig abschätzen, was mich erwartet und sehe dem Projekt deshalb mit freudiger Spannung entgegen.

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